Im Interview – Horst Reimann und Julian Mayer WENIGER BARRIEREN IM WEB


Am 28. Juni tritt ein neues Gesetz in Kraft. Es regelt die Teilhabe von Menschen mit Einschränkungen an Produkten und Dienstleistungen, die im Web angeboten werden.

Icons die Barrierefreiheit beschreiben sollen

Das sogenannte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, kurz BFSG, wendet sich erstmals an die private Wirtschaft. Schon seit längerer Zeit sind öffentliche Einrichtungen wie Behörden, Städte und Kommunen verpflichtet, ihre Webseiten barrierefrei zu gestalten. Welche Unternehmen sind betroffen? Was gilt es künftig zu beachten? Horst Reimann, Kommunikationsexperte bei Atelier und Friends und Patentanwalt Julian Mayer wissen Bescheid.

Horst Reimann und Sarina Schlittmeier beim Check einer Website Alles barrierefrei? Horst Reimann und Sarina Schlittmeier beim Check einer Website.
Julian Mayer Patentanwalt Julian Mayer, Patentanwalt

Herr Reimann, wieso interessieren Sie sich für Barrierefreiheit?


Reimann: Neben einem allgemeinen Interesse, unsere Welt inklusiver zu machen, steht für uns vor allem eines im Zentrum: Viele unserer Kunden, deren Webseiten und Online-Kampagnen wir betreuen, sind betroffen.

Handelt es sich dabei um ein weiteres Bürokratie-Monster?


Reimann: Manche mögen das so sehen. Allerdings werden damit auch Menschen mit Einschränkungen neue Möglichkeiten eröffnet. Sie können ungehindert am digitalen Geschäftsleben teilnehmen. Und die Unternehmen können sich dadurch ein zusätzliches Publikum erschließen. Außerdem wird die Auffindbarkeit in Suchmaschinen wesentlich verbessert. Das alles trägt zur Stärkung der Marke bei. Der Aufwand könnte sich also lohnen.

Herr Mayer, für wen gilt denn das neue Gesetz eigentlich?


Mayer: Grundsätzlich nur für Unternehmen, die Geschäfte mit Endkunden betreiben, sogenannte B2C-Anbieter. B2B-Anbieter, also Transaktionen zwischen Unternehmen bleiben außen vor. Auch Kleinunternehmen sind von den Vorschriften ausgeschlossen, sofern sie nicht mehr als 10 Mitarbeitende beschäftigen oder nicht mehr als 2 Mio. Euro Umsatz machen. Entscheidend aber ist, dass Produkte oder Dienstleistungen online angeboten und gekauft werden können, über Webshops beispielsweise. Hier spricht man vom digitalen Geschäftsverkehr. Dazu gehören auch Terminbuchungen beim Friseur oder Ticketbestellungen beim Konzertveranstalter.

Grafik zeigt Prüfmuster ob Website vom BFSG betroffen ist.

Dann müssen wir als Redaktion uns auch Gedanken über unsere künftige Web-Kommunikation machen?


Mayer: Ich fürchte schon. Ein Verlag mit mehr als 10 Beschäftigten, der z. B. den Verkauf von Printprodukten über seine Website anbietet, ist betroffen. Denn damit ist das Unternehmen groß genug und es bietet Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr an – in diesem Fall über einen Webshop.
Reimann: Jedes Unternehmen kann natürlich sein Angebot freiwillig barrierefrei gestalten. Denn vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und einer älter werdenden Kundschaft ist das ein Qualitätsmerkmal und ein klarer Wettbewerbsvorteil. Zudem wird der Geltungsbereich in den kommenden Jahren bestimmt ausgeweitet.

Was müssen betroffene Unternehmen tun, um ihre Website barrierefrei zu machen?


Mayer: Es gilt das Prinzip „Design for all“. Die Website soll auch von Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen genutzt werden können. Dafür muss sie WAHRNEHMBAR, BEDIENBAR, VERSTÄNDLICH und ROBUST sein.

Was bedeuten diese Begriffe konkret?


Reimann: WARNEHMBAR heißt: skalierbare und kontrastreiche Texte. Bilder mit alternativen Textbeschreibungen für Menschen mit Sehbehinderungen. Videos mit Untertiteln oder Transkripten, die für Menschen mit Hörbehinderungen sind. BEDIENBAR heißt: Die Website muss über die Tastatur vollständig erschließbar sein, ohne auf die Maus angewiesen zu sein. Es sollte ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, um Inhalte zu lesen und zu verwenden, z.B. bei Formularen, die nach einer gewissen Zeit ablaufen. Interaktive Elemente wie Buttons oder Links sind klar erkennbar und leicht anklickbar zu gestalten und zu platzieren.
VERSTÄNDLICH heißt: Einfache Sprache ohne verklausulierte oder bürokratisierte Sätze. Formulare mit klaren Anweisungen und Fehlermeldungen. Logische und konsistente Navigation, damit Nutzer sich leicht zurechtfinden.
Und ROBUST bedeutet: Fehlerfreie und korrekte HTML-Codes, die von verschiedenen Tools und Geräten richtig interpretiert werden sowie die Nutzung von standardkonformen und zukunftssicheren Technologien.

Gibt es objektive Kriterien für die Umsetzung von Barrierefreiheit?


Reimann: Es existieren internationale Regularien. Die WCAG 2.2 zum Beispiel formuliert Kriterien für drei Level der Barrierefreiheit: Von Level A für das absolute Minimum bis zu Level AAA für die aktuell weitreichendste mögliche Barrierefreiheit. Ein Level A-Kriterium wäre zum Beispiel, dass Farbe nicht das einzige visuelle Mittel ist, um eine Information zu transportieren, weil nicht alle Menschen Farben gleichermaßen gut erkennen oder unterscheiden können. Ein Level AAA-Kriterium wäre, dass Texte sich immer mit einem deutlich sichtbaren Kontrast von ihrem Hintergrund bzw. ihrer Umgebung abheben müssen, um sie für Menschen mit stark beeinträchtigtem Sehsinn noch erkennbar und lesbar zu machen.
Mayer: Betreiber einer Website sollten zusätzlich zum Impressum und zur Datenschutzerklärung einen Hinweis zur Barrierefreiheit aufführen, der angibt, was dafür getan wurde.

Mit welchen Konsequenzen muss jemand rechnen, der sich nicht daran hält?


Mayer: Die Marktüberwachungsbehörden können anordnen, dass ein Angebot aus der Website entfernt wird, wenn dieses dauerhaft nicht barrierefrei zur Verfügung gestellt wird. Wettbewerber können Anbieter, die sich nicht an die Vorgaben halten, wegen unlauteren Wettbewerbs verklagen. Und selbstverständlich können auch betroffene Verbraucher gegen den Anbieter vorgehen. Bußgeldverfahren sind dann jederzeit möglich.

Herr Reimann, welche Vorgehensweise empfehlen Sie möglicherweise betroffenen Unternehmen?


Reimann: Wir empfehlen, sich mit einem Kommunikationsdienstleister in Verbindung zu setzen. Auch bestehende Websites müssen geprüft werden. Abhängig vom technischen Stand ergibt sich ein größerer oder kleinerer Aufwand, sie an die Anforderungen anzupassen. Bei neu erstellten Seiten denken wir diese Erfordernisse natürlich von Anfang an gleich mit.

Dann wird die Welt ab Mitte des Jahres barrierefrei?


Reimann: Stück für Stück. Wir arbeiten daran.
Mayer: Die Entwicklung geht weiter. Wir informieren darüber.

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